Lehren aus der Corona-Krise für unsere Branche

Mehr Flexibilität im Berufsalltag, mehr Freiflächen in der Stadt, mehr Fahrrad statt Auto, mehr Verantwortung fürs Klima

Die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid 19 haben unser Leben in kürzester Zeit stark verändert – beruflich, privat, gesellschaftlich und kulturell.

Als Ausnahmezustand zeigt uns die Krise deutlich die Schwachstellen und bisher ungenutzten Potenziale in unserer Branche auf – sowohl hinsichtlich der Art und Weise wie wir arbeiten als auch dem Inhalt unserer Tätigkeiten und der Auswirklungen auf den gebauten Raum, die Gesellschaft und das Klima. Sie gibt uns die Chance, Lehren für die Zukunft zu ziehen. Dabei soll natürlich nicht vergessen werden, dass die Krise für viele Menschen berufliche Unsicherheiten und Schäden, für manche auch persönliches Leid bedeutet.

Dieses Papier ist das Ergebnis einer Umfrage, die wir unter unseren 140 Mitgliedern – Hochbau-, Innen- und Landschaftsarchitektinnen sowie Bauingenieurinnen und Stadtplanerinnen – durchgeführt haben. Die Positionen kommen also direkt aus der Branche. Wir leisten als Planerinnennetzwerk einen Diskussionsbeitrag zur aktiven Gestaltung unserer Branche – mit einem Blickwinkel, der in den aktuell sehr männlich geprägten Experten- und Politikrunden oftmals zu kurz kommt.

Als Ergebnis der Umfrage können vier zentrale Punkte herausgegriffen werden, die unsere Branche und unsere gebaute Umwelt zukunftsfähiger machen.

  • Mehr Flexibilität im Berufsalltag
    Flexibilisierung der Arbeitsstrukturen durch Maßnahmen wie Home Office, Online-Meetings und Online-Seminare sollen beibehalten und in eine neue Arbeitskultur eingebettet werden.
  • Mehr Freiflächen in der Stadt
    Bei der Gestaltung von Wohnungen, Wohn- und Stadtquartieren soll (noch) mehr Wert auf das Vorhandensein, die Gestaltung und Ausstattung sowie die Pflege von Balkonen, Terrassen und gemeinschaftlich genutzten Freiflächen gelegt werden.
  • Mehr Fahrrad statt Auto
    Hinsichtlich der Mobilität sollen umweltgerechte Alternativen zum motorisierten Individualverkehr städtebaulich forciert werden.
  • Mehr Verantwortung fürs Klima
    Prinzipien des klimagerechten Bauens sollen noch stärker umgesetzt werden.

Die Ergebnisse im Einzelnen.

Flexible Arbeitsstrukturen auf Basis der Digitalisierung: Bis zur Krise wurde hartnäckig behauptet, Home Office und die ortsunabhängige Zusammenarbeit via Telefon- oder Videokonferenz wären für viele Aufgaben im Architekturbüro nicht möglich. Als Maßnahme zur Kontaktbeschränkung stiegen die meisten Büros darauf um und machten eine gegenteilige Erfahrung.

Etwa 90 Prozent der Umfrageteilnehmerinnen sprechen sich für die Beibehaltung dieser Arbeitsweisen aus, als gleichwertige Alternative zu Präsenz im Büro. Gleiches gilt für Online-Fortbildung in Form von Webinaren als Alternative zu Präsenzveranstaltungen.

Auch für die Kommunikation mit den Bauämtern fordern über 90 Prozent einen weiteren Ausbau der digitalen Möglichkeiten. 

Weitere Themen für die Zukunft sind der Ausbau von Cloud-Lösungen zur Terminplanung für ein gemeinsames Bautagebuch, zur Dokumentation von Abnahmen etc. und die digitale Rechnung.

Klimagerecht Bauen: Die klimatischen Veränderungen waren bis Anfang des Jahres das beherrschende Thema – und es hat seine Relevanz in der aktuellen Situation nicht verloren. Besonders wichtig sind den Umfrageteilnehmerinnen die Verwendung von gesunden und klimagerechten Baustoffen, die Beachtung von grauer Energie in Form von Gebäudebestand und dessen Erhaltung vor Neubau sowie energieeffiziente Gebäudetechnik unter Berücksichtigung von erneuerbaren Energien.

Bereits in diesem Themenkomplex wird ein Aspekt angesprochen, der sich wie ein roter Faden durch die Betrachtung unserer Tätigkeitsfelder zieht: die Forderung nach qualitativ hochwertigen Freiflächen. Dach- und Fassadenbegrünung aber auch private oder gemeinschaftliche Freifläche können bei entsprechender Bepflanzung die Artenvielfalt besonders in Städten unterstützen, Schäden durch Starkregenereignisse minimieren und Regenwasser binden, die Naherholung der Bewohner fördern und das Mikroklima positiv beeinflussen.

Wohnungsbaustandards: Die privaten Wohnräume waren der zentrale Aufenthaltsort für die meisten in den vergangenen Wochen. Die gemeinschaftlich genutzten Räume waren nicht mehr nur Wohn- und Esszimmer, sondern Büro, Klassenzimmer, Fitnessstudio und vieles mehr. Demgegenüber wurden private Räume wie Badezimmer, Schlaf- und Kinderzimmer wichtige Rückzugsräume. Der Trend zur vielseitigen Nutzung zeichnete sich schon vor der Krise ab und wird sich danach noch verstärkt fortsetzen. Daher sprechen sich über 60 Prozent der Umfrageteilnehmerinnen für die Berücksichtigung der flexiblen Nutzung bzw. für flexiblere Grundrisse aus.

Noch wichtiger (85 Prozent) ist den Teilnehmerinnen ein privater Freiraum für Wohnungen wie ein Balkon oder ein Garten. Besonders Balkone wurden in der Krise nicht nur zum buchstäblichen Freiraum, sondern dienten auch der Kommunikation mit Nachbarn, gemeinschaftlichen Aktivitäten wie Musizieren und sogar der Demonstration.

Ein positiver Effekt der Krise war die große Solidarität in der Gesellschaft. Nachbarn halfen sich beispielsweise, wenn eine Familie in Quarantäne musste oder eine Person aufgrund von gesundheitlichen Risiken nicht das Haus verlassen wollte/konnte. Dies geht besonders gut innerhalb von heterogenen Gemeinschaften. Knapp 80 Prozent sprechen sich daher eine stärke Durchmischung in Wohnanlagen und Quartieren aus, durch unterschiedliche Wohnungsgrößen, einen Mix an privaten und öffentlich geförderten Wohnungen bis zu Gemeinschaftsprojekten.

Stadt- und Quartiersplanung: Bei der Diskussion, wie die aktuelle Situation die Zukunft unserer Städte beeinflusst, zeigt sich ein vielschichtiges Bild. Dabei werden Probleme und Herausforderungen, die schon länger bestanden, verstärkt und deren Lösung forciert. Wir sehen vor allem in drei Bereichen Handlungsbedarf: Mobilität, Quartiersplanung und der Umgang mit dem öffentlichen Raum.

Die geforderte Durchmischung im Wohnungsbau erstreckt sich auch auf den Einzelhandel. 67 Prozent sehen die Notwendigkeit für eine dezentrale Versorgung in Wohnortnähe. Daran schließen sich Überlegungen an, wie mit dem Einzelhandel in Innenstädten zukünftig umgegangen werden soll.  

Die Verlagerung von Arbeit und Schule in die eigenen vier Wände hat den motorisierten Verkehr deutlich reduziert. Gleichzeitig sind besonders in Städten und Ballungsgebieten viele vom ÖPNV auf das Fahrrad umgestiegen. Städte wie Berlin und München haben reagiert und sogenannte Pop-up-Radwege eingerichtet, die gut angenommen werden. Knapp 80 Prozent sprechen sich dafür aus, diesen Weg weiter zu gehen. Optionen wie Car-Sharing und Elektromobilität werden ebenfalls genannt. Auch der ländliche Raum soll stärker durch den Ausbau des ÖPNV angebunden werden. Dies ist besonders bei einem weiteren Ausbau der ortsunabhängigen Arbeit interessant, da es neue Wohnstandorte erschließt.   

Freiraumplanung: Der Wegfall aller Veranstaltungen und vieler Freizeitaktivitäten sowie die räumliche Beschränkung auf das wohnortnahe Umfeld haben zu einer neuen Relevanz des öffentlichen Raums geführt. Besonders wertvoll erwiesen sich begrünte Freiräume, die vielfältig genutzt wurden. Deren Vorhandensein und Gestaltung ließe sich beispielsweise verbessern, wenn Grünrahmenpläne in Bauleitplanung verpflichtend wären.

Durch ein Umdenken in der Verkehrsplanung würden zudem Flächen frei, die dann für die Menschen vor Ort zur Verfügung stehen. Knapp 90 Prozent der Umfrageteilnehmerinnen sprechen sich für die Maxime Mensch vor motorisiertem Verkehr aus.

Bei der Überlegung zur Gestaltung des Freiraums verlangen ebenfalls knapp 90 Prozent mehr gemeinschaftlich nutzbaren Freiraum in Wohnortnähe. Diese sollen besser gepflegt und hochwertiger gestaltet sein. Zudem sollte die Nutzungsqualität für alle Bevölkerungsgruppen hoch sein mit ausreichend Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten vom Spielplatz über Sport bis zu Treffen in kleinen Gruppen. Viele der Umfrageteilnehmerinnen sprechen sich zudem für eine Förderung von Urban-gardening-Projekten aus.

Wir freuen uns, wenn Du uns bei unseren Ideen und Forderungen unterstützt. 

>> Hier kannst Du das Positionspapier herunterladen und dann per Mail versenden. 

Gute Beispiele aus unserem Netzwerk

Wir sammeln zukunftsweisende Beispiele aus unserem Netzwerk, die bereits jetzt die genannten Forderungen erfüllen. Diese Sammlung wird kontinuierlich erweitert.

Du hast ein Projekt, das unsere Forderungen für eine zukunftsfähige Planung und Arbeitskultur unterstützt? Dann sende ein Foto und eine kurze Beschreibung an info@ainw.de

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